Prof. Dr. Dieter Rössner

Direktor des Instituts für Kriminalwissenschaften
der Philipps-Universität Marburg, Vorsitzender des Landespräventionsrats Hessen

Vorwort zu dem Werkstattband:
Rechtspädagogik.

Von der Spaß- in die Rechts- und Verantwortungsgesellschaft.
2006. Paperback 17×22 cm, 636 Seiten. ISBN 3- 8334-3638-7

Prof. RössnerDer Werkstattband über Rechtspädagogik thematisiert erstmals mit einem spezifischen und darauf konzentrierten Ansatz ein Rechts- und Erziehungsproblem, dessen Bedeutung bisher von beiden Wissenschaftsbereichen kaum erkannt und behandelt wurde. Die traditionelle Distanz der beiden Wissenschaften und deren rein fachbezogene Ausdifferenzierung haben den Blick dafür verstellt, dass einerseits die Rechtsordnung wichtige Erziehungsziele der Zivilgesellschaft und des friedlichen Zusammenlebens enthält und andererseits das Recht nicht per se Geltung erlangt, sondern in einem komplexen Erziehungsvorgang vom Einzelnen „verinnerlicht“ werden muss, um das Verhalten zu bestimmen.

Der Ansatz des Werkstattbands erkennt die dabei offenkundigen Diskrepanzen zwischen Recht und Erziehung und zeigt Wege zur Zusammenarbeit zwischen Rechts- und Erziehungswissenschaft auf. Während die Rechtsordnung in den letzten 50 Jahren in allen zivilisierten Staaten einen Stand erreicht hat, den man gemessen an allgemeinen Gerechtigkeitsprinzipien und den Menschenrechten als wohlgeordnet bezeichnen kann, hat man sich bisher kaum darüber Gedanken gemacht, wie man diese vernünftige und im Recht verankerte äußere Ordnung in das Bewusstsein der Menschen bringt und sie damit auch zur inneren Richtschnur der autonomen Entscheidungen macht. Mit Blick auf die Rechtsordnung ist es vernünftig, die ethisch-moralische Grundorientierung des Rechts auf die individuelle Selbstgesetzgebung des Individuum zu übertragen.

Unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen sind entsprechende rechtpädagogische Bemühungen notwendiger denn je. Die moralische Entwicklung des Menschen oder auch nur das soziale Normlernen findet in einem dafür immer weniger geeigneten gesellschaftlichen Rahmen statt. Die Verbindlichkeit und das Lernen von sozialen Normen in engen persönlichen Beziehungen werden durch Auflösungserscheinungen früher fester sozialer Bindungen zu familiären und gesellschaftlichen Institutionen mit entsprechenden Desintegrationsprozessen mehr und mehr beeinträchtigt. Im Blick darauf sowie die besonderen Anforderungen in einer multikulturellen Gesellschaft muss man aber im Interesse des friedlichen Gemeinschaftslebens äquivalente Strukturen für das Normlernen und die Internalisierung moralischer Prinzipien entwickeln. Dafür genügt keinesfalls der übliche moralische Appell an die Jugendlichen, sich doch endlich an die Werte der Rechtsordnung zu halten. Das kostet nichts, ist aber auch wirkungslos. Vielmehr muss man sich den neuen Fragen und Problemen des Erziehungsprozesses zur sozialen Verantwortlichkeit stellen, der an Schwierigkeiten und Komplexität die Anforderungen im Bereich der intellektuellen Bildung übersteigt.

Es ist das herausragende Verdienst des seit Anfang der 90er Jahre tätigen „Vereins Recht und Gesellschaft e. V.“ und des daraus hervorgegangenen „Bundesverbandes der Jugendrechtshäuser Deutschland e.V.“ – vor allem aber dessen unermüdlichen persönlichen Motors und deren allseits geschätzten Frau Sigrun von Hasseln – , dass die neuen gesellschaftlichen Herausforderungen der moralischen Entwicklung endlich aufgegriffen und zugleich Wege dafür gewiesen werden. In dem vorliegenden Band findet sich zunächst eine detailreiche und zugleich anregende Analyse zu der Grundfrage, ob die gegenwärtige Rechtsordnung als kongruenter Maßstab für eine daran orientierte Werte- und Erziehungsordnung zu dienen vermag und damit überhaupt als Grundlage zur moralischen Erziehung taugt. Die klar positive Antwort führt zum zentralen Thema des Buches, nämlich wie die äußere Friedensordnung auch zur inneren Handlungsrichtschnur der Menschen werden kann. Der Band enthält dazu erfreulich praktisch orientierte Vorschläge von der Familie über alle gesellschaftlichen Institutionen bis hin zur Justiz, die alle dazu dienen, eine Rechts- und Verantwortungsgesellschaft wachsen zu lassen.

Damit liegt erstmals ein Gesamtkonzept für diesen Erziehungsbereich vor, der Theorie und Praxis der Rechtspädagogik etabliert und weit in die Zukunft reicht. Jeder, der in der Verantwortung steht, Menschen zur Verantwortlichkeit gegenüber der Gemeinschaft zu erziehen und ganz besonders kriminelle Handlungen bei entsprechend gestörten Entwicklungen zu verhüten, sollte sich hilfreiche und verlässliche Unterstützung aus dem Werkstattband holen.

Die wissenschaftliche Diskussion wird durch dieses erste Gesamtkonzept ebenfalls weit vorangebracht. Man muss sich freilich darüber klar sein, dass die gestellte Menschheitsaufgabe der Erziehung zum friedlichen Zusammenleben nicht einfach ist und schon gar nicht billig. Deshalb ist der Ausbau der Rechtspädagogik auch auf entsprechende Unterstützung durch Staat und Gesellschaft angewiesen. Es ist zu hoffen, dass sich auch hier genügend Verantwortungsbereitschaft für das Konzept der Rechtspädagogik zeigt. Schließlich müssen wir aber auch die Grenzen der „Machbarkeit“ erkennen. Nicht alles ist mit noch so gut ausgearbeiteten Erziehungsmethoden einfach zu bewältigen: Der Philosoph Kant hat trotz allen Nachdenkens über die Zusammenhänge zwischen Vernunft und moralischer Einsicht in Bewunderung und Ehrfurcht festgestellt, dass zwei Dinge einen unerklärlichen Rest behalten: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Bewunderung und Ehrfurcht schließen freilich nicht aus, sondern fordern es geradezu, dass wir die bestmöglichen Bedingungen suchen, um das moralische Gesetz in uns auszubilden. Die Rechtspädagogik des vorliegenden Buches ist ein Wegweiser dafür.